Frankreich hatte Deutschland den Krieg erklärt, und die mächtigen Gegner, seit langen Jahren zu jedem Kampfe gerüstet, trafen nun die letzten Vorbereitungen zu dem unvermeidlich gewordenen, nahe bevorstehenden Zusammenstoß. In Berlin und in Paris, den Brennpunkten des militärischen Lebens von Deutschland und von Frankreich, herrschte tiefe Aufregung. In der französischen Hauptstadt äußerte sich dieselbe in wildem Lärm, in übermütigem Jubel: Krieg und Sieg waren dort gleichbedeutende Worte. Es kam dem großen Haufen nicht einen Augenblick in den Sinn, sich den Ausgang des Kampfes anders als einen Triumph Frankreichs zu denken. Die Regierung bot alle ihr zu Gebote stehenden Mittel auf, um das erregbare Volk zur Begeisterung hinzureißen. Die dem Kaisertum ergebenen Zeitungen begannen den Reigen, die andern folgten ohne Zeitverlust; während einiger Tage herrschte eine Einstimmigkeit in der französischen Presse, wie man sie dort seit Menschengedenken nicht gekannt hatte. Die mit Meisterhand gewobene Legende der französischen Revolution, des Konsulats und des Kaisertums wurde, mit neuen Zusätzen und Ausschmückungen versehen, der leichtgläubigen, vollständig ungebildeten Masse vorgetragen; die lang verpönte Marseillaise ertönte auf den Plätzen und in den Straßen, bekannte Künstler der „Großen Oper“ und des „Théâtre français“ wurden, auf offener Straße angehalten und genötigt, den Chant du départ zu singen oder Mussets Rhin allemand zu deklamiren; die nach der Grenze abziehenden Soldaten wurden mit noch nicht geernteten Lorbeern bekränzt, und das Volk begrüßte sie überall, als wären sie heimkehrende Sieger. „Nach Berlin!“ schrien der Pöbel, die Zeitungen, die Kammern, die Armee und die Regierung. Kein Akt der exekutiven Gewalt in Frankreich war je mit größerem Enthusiasmus begrüßt worden, als die dem deutschen Volk zugesandte Kriegserklärung.
In Berlin sah es im Monat Juli 1870 weit ruhiger aus als in der feindlichen Schwesterstadt. Der Ernst des bevorstehenden Kampfes war dort in seiner vollen Bedeutung gewürdigt; selbst die kühnsten Patrioten wagten ihre Hoffnungen nur schüchtern laut werden zu lassen...
Details
- Publication Date
- Oct 18, 2021
- Language
- German
- Category
- History
- Copyright
- No Known Copyright (Public Domain)
- Contributors
- By (author): Rudolph Lindau
Specifications
- Pages
- 123
- Binding Type
- Paperback Perfect Bound
- Interior Color
- Black & White
- Dimensions
- US Trade (6 x 9 in / 152 x 229 mm)